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 Pilgern unter einem Hut - Unterwegs mit Sandra

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Bayerisch Schwäbischer Jakobsweg 

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Etappe 10:  Von Siebnach  nach Bad Wörishofen 22 km

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Dienstag, 29.06.21

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Bedeckter Himmel - ein Glück

Es hat über Nacht ein wenig geregnet und ist merklich abgekühlt. Frühstück draußen wäre heute Morgen tatsächlich unangenehm geworden. Ich bin froh, dass keine Sonne weit und breit zu sehen ist. Ich entscheide mich für meine Windjacke über dem T-Shirt und verschiebe das geplante Vaseline Experiment deshalb wieder auf einen anderen Tag. Die Beine sind erstaunlich gut, ich habe zwar leichten Muskelkater, aber kann gut gehen. Die Füße sind auch noch schick und blasenfrei und haben mir ja auch im letzten Jahr keine Probleme gemacht, Hirschtalg sei Dank.

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Wer sagt es denn, an Tag 3 sitzt der Rucksack zwar nicht wie angegossen und meine Schultern tun immer noch weh, aber  wir haben uns wieder an unsere gegenseitige Präsenz gewöhnt und nähern uns an.  Beim Packen war ich diesmal jedenfalls aufmerksam.

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Die Luft ist frisch und die Bedingungen zum Laufen sind heute gut. Auf dem ersten Kilometer nach Siebnach fängt es an zu nieseln und ich bin hin und hergerissen meinen Poncho anzuziehen.  Ich riskiere es und laufe ohne weiter, denn wie ich schon in einer früheren Etappe beschrieben, will alleiniges Ponchoanziehen im Regen ohne Bank  geübt sein und ist ein ziemlich aufwendiges Unterfangen.

Hose auf Abwegen

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Es ist die richtige Entscheidung, nach ca. 20 Minuten hört es wieder auf. Ich laufe durch den Ort Siebnach. Die einzigen Menschen, die ich sehe sind drei Dachdecker, die auf einem nicht allzu hohen Satteldach zu meiner rechten arbeiten. Meine Herren!  Einer von ihnen kniet mit dem Rücken zu mir und präsentiert mir sein  fast blankes, etwas speckiges, unattraktives Hinterteil mit enormer Ritze, weil die Arbeitshose und alles was eventuell drunter wäre, vom Werkzeug in der Tasche Richtung Knie gezogen werden.  Der Gute hat in der morgendlichen Eile wohl vergessen einen Gürtel umzuschnallen. Oder es nicht für nötig gehalten, weil es hier sonst nie Hinterngaffer gibt. Keine Ahnung.  Mich juckt es in den Fingern ein Katastrophenfoto zu machen, aber ich traue mich dann doch nicht, weil ich das Handy nicht griffbereit habe und die anderen beiden mich bemerken würden., wenn ich jetzt stehenbliebe und kramte.

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 Ich bin nicht sicher, ob ich schneller rennen würde als sie….

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Und wer weiß, man sieht sich immer zweimal im Leben.

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In meinem Kopf singt jemand „Feigling, Feigling….!

Kurz mal lost

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Hinter dem Ort macht der Weg ein paar Schlenker und führt dann Richtung Wertach, dem Flüsschen, dem ich auch schon vorgestern gefolgt bin. Hier wird es kurz unangenehm. Ich stapfe durch kniehohe taunasse Wiese und merke erst nach einer ganzen Weile , dass es nicht mehr richtig sein kann und es auch nicht mehr weiter geht, weil ein flott fließender Bach, der nicht wie die Wertach aussieht,  mir plötzlich den Weg abschneidet . Komisch.

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Blick auf Komoot. Hä? Versteh ich nicht.  

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Ich gehe doch in die richtige Richtung!

Hier führt der Weg entlang

Hier bin ich falsch weitergelaufen

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Hilft nix, ich muss zurück durch das nasse Feld. Nach ungefähr 400 Metern Rückmarsch entdecke ich plötzlich hinter viel Blättergrün ein Jakobswegzeichen, das ich wohl übersehen hatte. Es zweigt von dem Wiesenweg weiter nach links ab, und führt ebenfalls durch  kniehohes Grünzeug, das den Weg zurückerobert hat. Aber zum Glück nur für ca. 30 Meter, bis es auf einen anderen Weg trifft, der mich direkt  auf eine Brücke über das wildgewordene Bächlein leitet. Jetzt erst befindet sich die Wertach zu meiner Linken und ich mich wieder auf einem klar zu erkennenden breiten Weg.  Das waren mindestens 700 Extrameter, die nun noch zu meinem Tagespensum dazukommen.

Aber manchmal muss man einen Umweg nehmen oder sogar ein Stück zurückgehen, um erkennen zu können, wo der richtige Weg hinführt….

Meine treue Freundin, die Sonne

 

Die Bedingungen zum Laufen sind gut heute, nach nicht mal 2 Stunden habe ich bereits über 8 km zurückgelegt.

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Trotz des Umweges.

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Der Weg ist sehr eben, es geht die ganze Zeit an der Wertach entlang, die Strecke links und rechts mit Bäumen gesäumt. Schön schattig, denn seit dem späteren Morgen zeigt sich die Sonne wieder. Es soll zu meiner Freude, aber nicht so heiß wie gestern werden und eigentlich auch einen Wettergemischtwarenladen geben.

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Ich komme an mehreren Wehren und diesen Staustufen vorbei.

Kurz vor Türkheim mache ich die erste Rast an einem grünen See. Bis hierher hatte ich die Natur wieder ganz für mich allein. Am See begegnet mir das erste Mal eine Frau, die ihren Hund ausführt.

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Ich passiere den Rand von Türkheim , wandere immer Richtung Süden, begleitet von der Wertach und unterquere schließlich eine Bahnstrecke und anschließend die A96 , die mit ihrem Motorenlärm schon von weitem durch die freundliche Ruhe der Natur schneidet.

Ich freue mich schon auf den Irsingener See, den ich in Kürze erreichen sollte und stelle mir ein kleines Naherholungsgebiet  mit ein paar Bänken am Ufer und einem schönen Seepanorama vor. Ideal für eine zweite Pause.

Zu meinem Bedauern hat die Sonne wieder eine enorme Strahlkraft entwickelt. Es ist wieder fast so warm wie gestern.

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Aber Pustekuchen.  Die Wasserkraft  der Wertach wird an diversen Stellen durch Wehre und Wasserkraftwerke genutzt. Und auch der See, ist natürlich ein Stausee, der durch ein Kraftwerkswehr aufgestaut wird. Anders als vorgestern in Bobingen kriege ich den See jedoch gar nicht zu Gesicht, weil die Sicht darauf am Kraftwerk durch einen etwas höheren Damm verdeckt wird. Unten am Damm steht an dieser Stelle ein nicht einladendes Schild, das Betreten desselbigen verbietet.

Ich habe heute keine Bank mit Stauseepanoramablick  für dich

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Ich könnte zwar ein Stück weiter einem Pfad folgen, der Richtung See abzweigt und einen Abstecher machen, weiß aber natürlich auch, dass ich denselben Weg zurückgehen müsste, weil der Jakobsweg hier die Richtung ändert und im neunzig Grad Winkel nach Westen abknickt. 

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Ich bin frustriert. Ich hatte mich so darauf gefreut.  Bei Tageskilometer 15 hätte ich mir genau hier eine schattige Bank mit Seeblick gewünscht.  Aber es gibt am Wegesrand nicht mal eine sonnige Bank ohne Seeblick.

Hinter dem geschlossenen Segelclubgebäude gehe ich trotzig in die angrenzende Wiese und hocke mich auf meinen Rucksack unter ein paar Sträucher. Zeit zum eincremen. Außerdem schütte ich mir wieder ein Magnesium Direkt unter die Zunge und trinke meine große Caprisonne leer. 

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Der Himmel ist strahlendblau, nur ganz in der Ferne ziehen ein paar harmlose Wölkchen umher, mehr zu erahnen als zu erkennen. Für heute Abend sind Gewitter angesagt, aber dann ist es mir ja egal, beim Fußballschauen.

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Ich habe für heute das pilgerfreundliche  Kneipp Kurhotel St.-Josef gebucht . Mit  Frühstück für einen Sonderpilgerpreis von 45,- Euro. Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet.  Es wird von  Mallersdorfer Schwestern, einem römisch-katholischer Frauenorden betrieben,  und beherbergt natürlich in der Hauptsache Kurgäste.

Das Haus hat in seiner Eigenschaft als Kurhotel selbstverständlich auch ein Schwimmbad und für diese Gelegenheit habe ich extra meinen Badeanzug eingepackt.  Weil ich hoffe, nach der Ankunft noch Zeit zu finden eine Runde zu schwimmen. Ist präcoronal her, dass ich in einem Schwimmbad war. Täte meinen Schultern sicher gut. Bei der Buchung war mir  allerdings noch nicht klar gewesen, dass mein Schwimmvorhaben mit einem Fußballspiel kollidieren könnte.

Leider liegt meine Unterkunft nicht ganz so zentral, sondern etwas ab vom Jakobsweg. Aber gut, im Moment erhasche ich noch nicht mal einen Blick auf Bad Wörishofen, also bleibt noch genug Zeit mich später mit der Anschrift und Lage zu beschäftigen.

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Ich rappele mich hoch, justiere mich und laufe weiter, schnurgerade auf einer asphaltierten Straße zwischen Feldern hindurch. Auch heute meint es die Sonne wieder zu gut mit mir.

Ich beobachte zwei Raubvögel ganz aus der Nähe, die sich nur wenige Meter über dem Boden um dieselbe Beute streiten. Bis ich mein Handy gezückt habe und auslösebereit bin, sind sie leider schon über alle Berge bzw. Felder.

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Eineinhalb Kilometer später flüstert mir ein schattiges Rastplätzchen im Vorbeigehen zu: „ Komm, bleib ein bisschen hier. Setz dich her zu mir und genieße den Augenblick“. Wer kann da schon nein sagen?  Ich trinke ein paar Schlucke aus meiner letzten Flasche und schlucke nochmal Magnesium. Laut App befinde ich mich ungefähr fünf Kilometer vor Bad Wörishofen. Einige ältere Paare auf E-Bikes teilen nun den Weg mit mir. Es wird wieder belebter in Stadtnähe.

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Die Farben des Sommers

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Nach einer Linkskurve, die  an einem Wäldchen entlang führt, finde ich rechter Hand ein paar schöne Fotomotive in einem goldfarbenen Weizenfeld.  Das Licht lässt die  Blumen leuchten. Ich liebe diese Farbkontraste.

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Am Ende des Wäldchens mündet der Jakobsweg auf eine recht  frequentierte Straße. Die Zivilisation hat mich wieder. Die Ausläufer von Bad Wörishofen liegen nun vor mir, aber ich schätze ich brauche trotzdem noch ein Stündchen bis ins Zentrum. Ich suche, wo mein Weg denn nun weiter neben der Straße verläuft, sehe aber nichts.

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Etwas irritiert stelle ich fest, dass die Muschelschilder nicht parallel zur Straße, sondern auf die Landstraße weisen. Das erste Mal seit Oettingen, dass ich mir die Fahrbahn mit den Autos teilen muss, die hier mit max. 60 kmh befahren werden darf. Unangenehm, ich werde zwar nicht permanent, aber schon häufiger und mit hoher Geschwindigkeit von hinten überholt, kann aber nicht neben die Fahrbahn ausweichen. Und Gegenverkehr ist natürlich auch.  Ich komme am Flugplatz vorbei und sehe einen alten Doppeldecker dort stehen, den ich gerne fotografiert hätte, allein mir fehlt eine sichere Position abseits der Straße. Hier habe ich keine Ruhe  stehen zu bleiben und gemütlich ein Foto zu schießen, während Autos vorbeirauschen.

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Es kommt schneller als ich gehen kann

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Außerdem hat es sich unauffällig, aber rasant zugezogen. Seit ungefähr 10 Minuten ist die Sonne weg und der Wind hat ordentlich aufgefrischt.  Ich marschiere im Stechschritt zum Ende der Straße, bis ich endlich auf einen Bürgersteig treffe. Dann sieht der Himmel plötzlich so aus:

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Auweiha, denke ich. Das dauert nicht bis zum Abend bis das Unwetter losbricht.

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Im Minutentakt verändert sich der Himmel jetzt und der Wind wird stärker. Mir wird schlagartig klar, dass ich jetzt die Beine in die Hand nehmen muss, um noch vor dem Unwetter trocken im Hotel anzukommen.

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Ich bin zwei Kilometer vor meinem Ziel und nach 20 km in den Knochen schon ziemlich am Anschlag.

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Aber ich habe ordentlich Respekt vor dem, was sich da zusammenbraut, was in mir ein paar Extrakörner freisetzt.  Ich hetze weiter Richtung Zentrum  und entlang  des Wörthbachs. Es hat sich nun auch ordentlich verdunkelt, der Wind schüttelt bereits die Sträucher und lässt die Äste der Bäume biegen. Ich weiß, dass es spätestens in den nächsten zehn Minuten so richtig losgehen wird. Man sieht schon die Leute nach Hause eilen,  oder in ihren Vorgärten die Sonnenschirme einklappen  und die Gartenmöbel sichern. Es blitzt.  Es kracht. Der erste Donner und zwar ziemlich nahe am Blitz. Ich bewege mich jetzt tatsächlich im Laufschritt durch die Innenstadt, die Stöcke in einer Hand und komme mir vor wie eine Biathletin, direkt nach dem Schießen, wenn Sie zurück in die Loipe geht.  

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Ich habe nur so eine ungefähre Ahnung, wo ich hin muss und scanne  schon die Umgebung nach Wegweisern. Die Zeit zum nachsehen hab ich nicht mehr gefunden.  Wo ist das blöde Hotel?  Ich schätze noch 400 Meter. Ah, da, die Treppen hoch und einen schmalen Fußweg entlang. Bergauf. Normal. Am Ende stehe ich vor einer Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite lese ich an der Mauer vor dem Innenhof auf dem Schild „ Kneipp Kurhaus St. Josef “ , dahinter liegt, leicht zurückversetzt, ein Riesengebäude.  Ich laufe über die Straße, durch den Eingang in den großen Innenhof, bis zum überdachten Eingangsbereich.

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Mein Puls hämmert ordentlich rum in seinen Gefäßen. Ich bin fertig. Total am Ende. Ich reiße mir den Rucksack vom Rücken und lasse mich augenblicklich auf die Treppenstufen fallen.

Neben mir stehen drei schnatternde Frauen, Endfünfzigerinnen, in Sportklamotten, die meinen Auftritt beobachtet haben. Die eine erkundigt sich augenblicklich, ob ich unterzuckert wäre und Hilfe bräuchte.

"Nein, mir geht es gut", erwidere ich sofort. Ich möchte jetzt keine ellenlangen Erklärungen abgeben, aber da sie zweifelnd gucken füge ich hinzu „ ich bin gerade 22 km gewandert und hatte Angst es nicht mehr vor dem Gewitter hierher zu schaffen. Kleiner Endspurt“.

Sie nicken verständnisvoll. Ich glaube aber nicht , dass sie ansatzweise verstehen, was das bedeutet.

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In diesem Moment geht es los. Der Himmel öffnet seine Schleusen und es blitzt, donnert, regnet und stürmt , was das Zeug hält. Das war die absolute Punktlandung. Ich bin wirklich dankbar angekommen zu sein. Ich fummele meine Maske aus der Tasche, setze den Rucksack wieder auf  und gehe hinein zur Rezeption. Natürlich herrscht Betrieb drinnen, ich muss mich anstellen und es dauert vielleicht nur fünf Minuten bis ich dran komme, aber ich habe diverse Zipperlein. Es kommt mir ewig vor.

Über Entscheidungen und ihre Folgen

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Die junge Frau an der Rezeption hat, wie sie mich anschaut, noch nie eine Pilgerin gesehen. Ich melde mich an und frage gleich nach, ob ich nicht auch noch das Abendessen nachträglich dazu buchen kann, denn bei dem Wetter möchte ich eigentlich nicht mehr zurück in die Stadt gehen, um auswärts zu essen.  

Oh, das mit dem Essen ist schwierig, schaltet sich ihre Kollegin ein. Sie können das erst klären, wenn jemand in der Küche ist. Also gegen halb sechs für das Essen um sechs Uhr.

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Was? Ist das deren Ernst? Nur eine zusätzliche Portion ohne Anmeldung ist nicht möglich? So knapp wird kalkuliert?

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Ich lasse mich auf die Lotterie ein und werde dann auf dem Zimmer über das Haustelefon informiert , ob es noch klappt. Um den Übernachtungspilgertarif zu bekommen muss ich nicht nur den Pilgerpass vorzeigen, sondern er wird für die Geschäftsleitung gleich 2 x kopiert.

Wie bitte? In einem nonnengeführten Haus traut man nicht den Aussagen der Pilgergäste bzw. den Buchungen der Rezeptionistinnen?

Ich frage, wann denn das letzte Mal ein Pilger hier übernachtet hat? Sie können sich nicht erinnern, in diesem Jahr sicher nicht. Ich frage, ob sie einen Pilgerstempel haben. Ich glaube, ich hatte davon gelesen. Natürlich, aber sie  müssen ihn erstmal suchen.

Oha. Bin ich zu spitzfindig? Wahrscheinlich, aber ich bin einfach ein wenig enttäuscht über das Gebahren dieses Hauses.  Zu den Wurzeln des Ordens  im ursprünglichen Sinn gehören das Ablegen eines  Armutsgelübdes und ein karitatives Handeln. Gerade hier ist das Misstrauen größer als überall sonst wo ich bisher übernachtet habe?

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Es ist 16.00 Uhr, ich bekomme das Angebot um 16.15 Uhr an der Hausführung teilzunehmen. Sehe ich so aus, als bräuchte ich gerade eine Hausführung? Ich brauche einen Stuhl und ein Fußbad.

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„Nein danke. Nicht notwendig.“

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Ich weiß, das war zu ruppig.

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Besuch am Fuß

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Ich bekomme meine Zimmerschlüssel und nehme den Aufzug in die erste Etage. In meinem Zimmer lasse ich mich erstmal in den Sessel fallen und schäle mich aus meinen Schuhen und  nassen Socken.

Ich habe es das erste Mal gemerkt, als ich am Flugplatz vorbeilief. Irgendwas im rechten Schuh stimmte nicht mehr. Faltenbildung der Socke durch erhöhtes Lauftempo und mehr Feuchtigkeit?  Keine Ahnung. Das Ergebnis :

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Ich hab dem dicken Zeh eine Blase an sein Ohr gelabert , seitlich am Ballen. Ich fass es nicht.  Trotz Hirschtalg. Meine erste.  Noch nicht schlimm. Im Durchmesser einen Zentimeter und noch geschlossen. Nach dem Duschen würde ich ein Blasenpflaster draufmachen und es erstmal ignorieren.  

Doch nochmal los

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Ich ruhe mich eine halbe Stunde aus, esse einen Müsliriegel, trink viel Wasser und checke dann erstmal die Lage. Hm. Was, wenn sie mich nicht mehr zum Essen einplanen können? Dann müsste ich heute Abend hungrig ins Bett gehen.  Oder bis 18.00 Uhr zum Einkaufen in die Stadt und wieder zurückgelaufen sein, um pünktlich zum Anpfiff im Haus zu sein.   

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Das ist ja alles Mist. Entweder ich muss nochmal raus , kann dann aber gechillt Fußball gucken oder ich bleibe hier und sitze pünktlich um 18.00 Uhr im Speisesaal statt vor der Glotze.

Na gut, im zweiten Fall, würde ich schnell ans Buffet gehen und um spätestens 18.15 Uhr wieder auf dem Zimmer sein.

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Ich wäge ab und komme zu dem Schluss, dass mein Hunger noch  größer ist als meine Müdigkeit und ich will auf jeden Fall noch in die Stadt zu gehen. Das Unwetter hat nachgelassen, es regnet nur noch konstant.

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Ich packe meine Sandalen aus, meine Windjacke, leihe mir einen Hotelschirm und latsche unbesorgt sockenlos los. Innerhalb einer halben Stunde bin ich wieder zurück und um eine kalte Cola, eine Laugenstange, ein paar Bananen und zwei eiskalte, nasse Füße reicher. Der Wetterumschwung hat einen empfindlichen Temperatursturz mit sich gebracht.

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Ein karges Mahl

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Kaum bin ich da klingelt, auch schon das Telefon. Jupp, ich darf mitessen. Okay, dann nehm‘ ich die Laugenstange für Morgen unterwegs mit. Ist ja kein Drama.

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Pünktlich um 18.00 Uhr sitze ich im Speisesaal. Was ich nicht wusste: kein Buffet, stattdessen gibt es ein Gericht am Platz serviert. Vorspeise, Hauptspeise und Dessert. Meine Tischnachbarn berichten gleich zu Beginn unserer Unterhaltung, dass sie hier sehr langsam arbeiten und das Essen normalerweise nicht unter einer Stunde erledigt ist.

Stunde???

Okay. Ich verabschiede mich geistig  von Halbzeit 1. Mein Hunger ist nicht nur größer als meine Müdigkeit, sondern auch als mein Nationalstolz.  Als Vorspeise wird ein kleiner Beilagensalat mit Croutons aufgetragen.  Der ist schnell gegessen. Meine Tischnachbarn, ein Ehepaar Anfang Siebzig, kommen aus München. Die Dame behauptet steif und fest, dass das heutige Spiel in Nürnberg stattfindet. Das haben ihr ein paar andere weibliche Kurgäste heute Nachmittag noch bestätigt.

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Der Mann versucht ihr zu widersprechen und bringt den korrekten Austragungsort Wembley ins Spiel.

Aber er ist chancenlos. Er kann sich nicht durchsetzen. Nach einer Weile verstummt er. Ich springe ein und pflichte ihm bei, dass das Spiel in England stattfindet, werfe noch in den Ring, dass in Deutschland nur in München gespielt wird. Dann verstumme auch ich.

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Zwecklos.  Das Spiel findet in Nürnberg statt.

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Don Quichote tut mir leid. Ich  stelle mir vor, dass er fast schon sein ganzes Leben mit dieser Frau verheiratet ist und wie viele Diskussionen wie diese er wohl schon gegen seine Windmühlenfrau geführt hat.

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Ich wechsele das Thema. Und erzähle von meiner Jakobswanderung hierher.  Die Frau erkundigt sich daraufhin nach meinen weiteren Plänen  und es entwickelt sich nach dem Fußballgau ein interessantes Gespräch. Es stellt sich heraus, dass die beiden vor 15 Jahren von München mit dem Fahrrad nach Compostela geradelt sind. Und während sie sich wieder daran zurückerinnern blühen sie förmlich auf. Wer hätte das gedacht?

Sie lachen und erzählen Anekdoten und der Mann sagt mir zugewandt: „Ja, so ein Erlebnis verändert einen für immer.“

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Der Hauptgang wird aufgetragen. Auf meinem Teller liegt eine Minivogelnestchen Spaghetti und ein noch kleineres Stückchen Fleisch.  Der Mann blickt auf seinen Teller und sagt: „ da werde ich heute Abend wieder nicht satt“.

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Er wird mir immer sympathischer.  Der Hauptgang benötigt also ebenfalls nicht viel Zeit vom Teller zu verschwinden. Fußballinteressierte Kurgäste an den Nebentischen verlangen lautstark den Nachtisch sofort aufzutragen, um ihn mit aufs Zimmer nehmen zu können.  Gute Idee.

Was war das Ziel nochmal?

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Tatsächlich werden ihre Forderungen erhört und für alle umgesetzt.

Ich schnappe mir meinen Nachtisch und bin praktisch zum Pausenpfiff zurück im Zimmer.  Anscheinend habe ich nicht viel verpasst. Es steht 0:0. Erstmal esse ich meine Laugenstange.  Und dann den Nachtisch.

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Der Blick aus dem Fenster zeigt einen dramatischen Himmel.

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Wie wir alle wissen endet das Spiel in Nürnberg weniger dramatisch, aber  0:1 aus deutscher Sicht. Jogis Recken waren so chancenlos, wie der Mann an meinem Tisch verbal gegen seine Frau. 

Ein enttäuschendes Spiel. Wie das Essen.

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Da wär ich wohl mal besser schwimmen gegangen.

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Oder hätte mir vorher besser überlegen sollen, was  eigentlich meine oberste Priorität für diesen Abend gewesen war.

Essen? Fußball? Schwimmen?  

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Was sagt der gute Konfuzius nochmal zum Thema Entscheidungen?

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Wer das Ziel kennt, kann entscheiden; wer entscheidet, findet Ruhe; wer Ruhe findet, ist sicher; wer sicher ist, kann überlegen; wer überlegt, kann verbessern.

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Ziele zu finden war schon immer schwierig für mich und meine Ruhe  finde ich jedenfalls in dieser Nacht auch nicht. Aber zumindest bin ich sicher, dass ich noch eine Menge verbessern kann.  War da nicht was mit meinen persönlichen W-Fragen gewesen….?

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Ich sitze um 7.30 Uhr wieder im Frühstückssaal. An meinem Platz finde ich die Rechnung von gestern Abend. 17,90 Euro für das Essen zuzüglich Getränk.  Wow. Wenn ich wenigstens satt geworden wäre.

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Tatsächlich kläre ich beim Bezahlen des Zimmers später an der Rezeption,  dass ich als Pilgerin nur einen reduzierten Preis zahlen muss.  Es ist mir kein Trost. Die ganze Zeit hat sich hier für mich in den Vordergrund gedrängt, dass es nur um die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens geht. Vielleicht hatte ich nach meiner Erfahrung im Füchsle eine falsche oder zu hohe Erwartungshaltung an dieses Haus.

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Mir fehlt hier einfach komplett der Pilgergeist. Oder, wem das zu  hoch gegriffen ist, zumindest ein wenig Herzlichkeit und Interesse.  Es gibt in Wörishofen noch einige andere als pilgerfreundlich ausgewiesene Anlaufstellen, die vielleicht auch zentraler am Weg liegen.

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Ich werde beim nächsten Besuch  eine andere Unterkunft vorziehen.

 

Diese Entscheidung steht fest.

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