Pilgern unter einem Hut - Unterwegs mit Sandra
Bayerisch Schwäbischer Jakobsweg
Etappe 11: Von Bad Wörishofen nach Markt Rettenbach - 22,6 km
Mittwoch, 01.07.2021
Tagebucheintrag:
Nach dem Gewitter gestern hat es über Nacht einen Temperatursturz von 15 Grad gegeben. Es ist bewölkt heute Morgen, die Luft ist frisch und fast schon zu kühl. Also mal eine sehr gute WWA*. Trotzdem habe ich großen Respekt vor der Etappe, weil sie sehr lang ist und das Höhenprofil aussieht wie eine ausgepackte 100 Gramm Tobleroneschokolade . Ich bin gespannt, ob ich ankomme. Die Etappe wird bei Komoot mit „schwer“ betitelt. Aber das war die gestern ja auch schon. In diesem Sinne : nur Mut, Sandra! Hut auf, und ab geht die Post – wir sprechen uns heute Abend wieder!
*Wanderwetterausgangslage
Zwiebel mit Hut
Kaum liegt der Kurpark von Bad Wörishofen hinter mir und ich erreiche freies Feld, muss ich den Hut tief ins Gesicht ziehen und die Schnur unterm Kinn enger machen, sonst würde er mir vom Kopf fliegen, so windet es. Heute ist erstmalig das Zwiebelprinzip bei mir im Einsatz. Unterhemd – langärmeliges Shirt – Fleecejacke – Windjacke. Bisher hatten die untersten drei Schichten nur in meinem Rucksack rumgegammelt und die Jacke bis auf das Stündchen Ausgang gestern Morgen auch. Das hat den tollen Nebeneffekt, dass mein Rucksack halb leer ist und ich ihn kaum spüre.
Der Ruckmensch
Vielleicht bin ich aber auch schon mit ihm verwachsen. Das lebensnotwendige Wasser spendet er mir ja schon durch eine Verbindungsbahn. Wer weiß, was uns sonst noch alles verbindet, was unsichtbar an Träger und Rücken in mich hineinwächst? Dazu fallen mir direkt wieder ein paar düstere Science-Fiction-Bilder von der Verschmelzung künstlicher Rucksackintelligenz und Mensch zur neuen Spezies Ruckmensch ein, aber ich will nicht schon wieder soweit abschweifen und löse mich von dieser merkwürdigen Vorstellung. Wie eine gute Freundin im Fräulein-Rottenmeier-Ton jetzt anmerken würde: Mehr Kontemplation bitte!
Es riecht nach Urlaub
Die Wanderung heute weckt Erinnerungen an Urlaub. Es riecht nach Irland. Ich kann diesen Geruch nur annähernd beschreiben, aber für mich ist es ein sehr befreiender und angenehmer. Es riecht immer nach Irland für mich, wenn der Himmel wolkenverhangen ist und der Wind bläst. Wenn die Luft nach nassem Gras und feuchter Erde duftet und nach einem Hauch von rauchigen Torf. Gut, die Torfnote muss man sich denken im Süden Deutschlands. Heute Morgen riecht es im Unterallgäu nach Irland ohne Torf. Beziehungsweise gibt es stattdessen eine Prise Landwirtschaftswürze. Ab und zu weht ein Hauch Kuhdung vorbei.
Wie an den Tagen zuvor, bin ich auch heute wieder allein auf weiter Flur. Wandere vorbei an saftigen Wiesen voller glücklicher Kühe, während über mir die Bussarde kreisen und nach Beute in den wogenden Feldern Ausschau halten. Ich bleibe stehen und beobachte das Schauspiel eine Weile. Wie die Bussarde suchend und frei über den Himmel ziehen, so kreisen heute meine Gedanken wieder um eine der Fragen, die ich an Tag eins erstmal überfordert beiseite geschoben hatte. Heute gelingt es mir leichter mich einzulassen, obwohl die einzelnen Antwortfäden nach wie vor schwer zu entwirren scheinen aus dem Knäuel meines Lebens.
Nur vorab zu meiner Verteidigung - John ist schuld!
Zur Erinnerung - an mich adressiert lautet die Frage: Warum bin ich denn nun wirklich hier? Oder anders ausgedrückt: Was ist meine ureigenste Aufgabe, die ich auf dieser Welt erfüllen soll?
Grundsätzlich stellen sich viele Menschen diese Frage ja schon seit Jahrhunderten im Ergebnis mit manchmal philosophisch, religiös oder psychologisch anmutenden gedanklichen Höhenflügen. Die find ich allerdings ganz schön anstrengend und waren bisher Grund dafür mich nicht damit zu beschäftigen.
Aber eines Tages fand die Frage, ohne dass ich danach gesucht hätte, von ganz allein und unerwartet ihren Weg zu mir - durch ein Buch. Mein Mann hat es mir vor etwa zwei Jahren geschenkt, weil er dachte, er wolle mir ein paar neue Denkanstöße geben und auch weil der Klappentext ihn selbst ansprach. Von John Strelecky: „Das Cafe am Rande der Welt“. Dieser Mann hat mehrere Gaben. Eine davon ist brilliant mit Worten umzugehen. Ich mag seinen Stil wirklich sehr.
Es geht darum, dass die Hauptfigur ein kleines Café mitten im Nirgendwo findet, das zum Wendepunkt in seinem Leben wird. Er wird dort mit drei Fragen konfrontiert, die erste davon: "Warum bist du hier?" Die Begegnungen im Cafe verändern seine Einstellung zum Leben und zu seinen Beziehungen und letztlich gerät die Reise zu einer Reise zu seinem eigenen Selbst.
Der Lebensschirm
Natürlich schließt sich da direkt die Frage an, ob das Buch denn auch die passenden Antworten gibt. Ich würde sagen - Jein. Es bietet aber eine gute Hilfestellung. Beantwortet wird die Frage in dem Buch damit, dass jeder für sich selbst herausfinden muss, was der eigene Zweck der Existenz denn nun ist. Und wenn man diesen kennt, dann kann man auch die Frage nach dem Warum beantworten.
Zweck der Existenz. Aha. Was ist das jetzt wieder?
Der Zweck der Existenz wird als etwas übergeordnetes Ganzes definiert, wie ein Schirm, der dein Leben umspannt und deine fünf Herzenswünsche umfasst. Das sind die fünf Dinge, die du in deinem Leben erlebt oder getan haben möchtest, um sagen zu können, dass dein Leben glücklich und erfüllt war.
Faden um Faden langsam entwirren
Um meinem Zweck der Existenz näherzukommen, fange ich für mich erstmal an diese Herzenswünsche herauszufinden. Das scheint mir ein guter Anfang zu sein.
Was sich immer klarer für mich herauskristallisiert ist, dass einer meiner Herzenswünsche tatsächlich das Pilgern ist und erstmal ganz konkret die Beendigung des Bayerisch-Schwäbischen Weges in Lindau. Und genau da bin ich ja gerade schon dran.
Kraftquelle Pilgern
Es geht mir innerlich sehr gut damit, ich mache neue Erfahrungen, treffe andere Menschen, gehe an meine körperlichen Grenzen. Ich erlebe viel mehr Natur und stelle fest, wie schön es draußen ist nur als Ruckmensch unterwegs zu sein. Durch das kontinuierliche Gehen hat man viel Zeit sich mit sich auseinanderzusetzen, anders als im übervollen Alltag, wo man gerne vor Entscheidungen oder unschönen Gedanken wegläuft oder sie nicht zu Ende denkt. Gedanken unterwegs sind zum Beispiel auch: Was tut mir gut? , und auch, Wer tut mir tatsächlich nicht mehr gut? Es ist schon auch befreiend mal aus einer anderen Perspektive draufzuschauen, wie der Vogel von oben. Ich verzichte nur auf den Sturzflug, fette Beute mache ich dadurch ja in gewisser Weise auch, für mich in Form von Kraftnahrung.
Die Erkenntnis am Ende jeder einzelnen Jakobswegetappe bisher bestätigt mich jedenfalls und erfreut, wenn ich mir gedanklich auf die Schulter klopfen darf:
Du hast es wieder geschafft, obwohl du dir am Morgen wieder viel zu viele Sorgen gemacht hast über die „obs“, „falls“ und "wenn abers" dieses Tages! Habe mehr Vertrauen in deine Fähigkeiten“.
Spiel- und Spaßplatz Tastatur
Praktisch durch die Erfüllung dieses ersten Herzenswunsches legt sich gerade der Zweite selbst frei, der eigentlich schon seit meiner Jugend besteht, aber jahrelang verschüttet war. Es ist der Wunsch richtig gut zu schreiben. Aber wie die Raupe, die sich verpuppt, bevor sie zum wunderschönen Schmetterling wird, befinde auch ich mich noch im Entwicklungsstadium der Puppe und warte auf meine Metamorphose, die im optimalen Moment in einem ersten "Schreibhöhenflug" gipfelt.
In der Zwischenzeit hat die Puppe einen echten Spaß dran stundenlang vor dem Laptop zu hocken, die Texte zu meinen Etappen zu verfassen, zu verbessern, mehr zufällig eine Handvoll Kommata einzustreuen, die Fotos auszuwählen und das Layout dieser Homepage zu gestalten. Das ist viel mehr kreativer Modus, als ich in den letzten zwei Jahrzehnten in meinem Verwaltungsjob einbringen konnte. Es erstaunt mich regelrecht wie viel Zufriedenheit es mir gibt etwas Eigenes zu schaffen und umzusetzen, was mir wirklich gefällt, in einem Tempo, das ich selbst bestimme.
Ich will unterhalten
Und der zweite Aspekt am Schreiben, der mir wichtig ist, ist, dass ich meine Erfahrungen und Erlebnisse mit anderen Menschen teilen möchte. Ohne mein Licht unter den Scheffel stellen zu wollen - ich bin niemand mit einem hohen inspirierenden Schreibpotential, der mit seinen weisen Worten lebensverändernde Lawinen lostritt und andere gezielt mitreißen kann - sondern vielmehr jemand, der unterhaltsam schreibt und nebenbei informiert. Mir gibt es ein gutes Gefühl, dass man meine Berichte gerne liest, dass sie Lust auf mehr machen, dass der Leser sich wiederfinden kann, dass er häufiger Grinsen oder den Kopf schütteln muss. Wer weiß, vielleicht erreiche ich sogar den ein oder anderen ein bisschen darüber hinaus und rege zum Nachdenken über seine Herzenswünsche an? Mache Lust darauf nur ein kurzes Stückchen Jakobsweg selbst auszuprobieren? Das wäre schon mehr als ein guter Anfang und so viel wert.
Die Suche nach dem Buche
Und plötzlich habe ich wieder einen Faden in der Hand. Diesmal sogar einen Roten. Ich sehe klar vor mir, was ich eigentlich schon seit Jahren weiß, aber nie formulieren konnte: Ein Buch liegt auf meinem Weg! Schreib ein Buch! Ein Buch gehört untrennbar zum zweiten Herzenswunsch "Schreiben für andere" dazu.
Über das Thema muss ich mir noch klar werden, ob es autobiografischer Natur, ein Pilgerreisebericht (da fällt mir direkt der Titel zu ein: "Pilgerhut tut gut") , ein paar Anekdoten aus meiner Zeit als Standesbeamtin oder eher ein Fantasyroman werden soll. Mit letzterem habe ich tatsächlich schon begonnen. Es geht um zwei junge, auserwählte Elche, die ausziehen, um wirre Abenteuer zu bestehen und die Elchheit zu retten. Es gibt Kapitel 1, aber leider wahrscheinlich nie eine Zielgruppe.
Man hat mir familienintern nämlich schon zu verstehen gegeben, dass Fantasy nicht so mein Ding sei und ich damit keinen Blumenpott, geschweige denn Leser gewinnen würde, weil ich zu ideenlos sei. Aber so ganz davon überzeugt bin ich noch nicht. Ich hab auch zu strenge Kritiker.
Jedenfalls, ich glaube ich brauche vorher noch ein paar Etappen Jakobsweg, bis ich mir genremäßig sicher bin und der Schmetterling sich traut loszufliegen. Für das Herausfinden der weiteren Herzenswünsche und die Beantwortung der anderen Fragen natürlich auch, wobei da sicher auch eins zum anderen führen wird. Und wer weiß, welche Türen sich beim Pilgern oder im Zusammenhang damit noch öffnen werden? Ich bin gespannt.
So, zu viel Denken auf einmal ist auch nicht gesund und, da explodieren die Gehirnzellen und nur noch die Grütze bleibt übrig. Das macht hässlich. Ich tauche wieder auf in der Realität aus meinen persönlichen geistigen Höhenflügen.
Nein, ich stehe schon lange nicht mehr an der Stelle, von wo ich die Greifvögel beobachtet habe. Ich bin einfach, mitten in Gedanken, wie in Trance dem Weg mit den gelben Muschelschildern gefolgt. Erstmalig verstehe ich die Worte " der Weg ist das Ziel" auf einer neuen Ebene. Die Füße sind wie automatisch weitergelaufen in der letzten halben Stunde, ohne das ich es gemerkt habe. Das erste Mal.
Ja, im Wald da sind die Räuhäuber....
Ich erreiche den ersten Wald des Tages.
Mittendrin, am Wegesrand, stehen verlassen zwei Fahrzeuge hintereinander. Irgendwie mutet das merkwürdig an. Aber am helllichten Tag werden die abwesenden Fahrer wohl keine Leiche im Wald verbuddeln….? Für alle Fälle merke ich mir mal präventiv die Kennzeichen für mein Kurzzeitgedächtnis. Zuviel Aktenzeichen XY….
Als ich auf Höhe des zweiten Kombis bin, macht der Kofferraum plötzlich einen Satz und das ganze Auto wackelt gefährlich in meine Richtung. Ein großes dunkles Etwas bellt mich drohend aus dem Inneren an. Herr im Himmel! Ich erschrecke mit zu Tode! Damit habe ich null gerechnet. Wer bitte fährt mitten in einen verlassenen Wald und geht dann nicht Gassi mit dem Hund, sondern lässt ihn im Auto zurück?
Der nächste Ort heute auf meiner Route, heisst Dirlewang und direkt an der Hauptstraße liegt am Ortseingang reizvoll ein EdekaMarkt. Überhaupt der erste Supermarkt, direkt an der Strecke ,seit vier Tagen. Nee, zu früh am Tag für mich, ich brauch noch nichts. Meine Wasservorräte sind voll und mein Magen auch. Für unterwegs habe ich noch eine Semmel dabei. Also, Chance vertan auf die ExtraPortion Schokolade, Tee oder Müsliriegel. Innerlich weine ich ein bisschen, aber ich habe einfach keine Lust mit dem Rucksack durch den Edeka zu schlendern.
Im Ort selbst komme ich mit einem älteren Mann ins Gespräch, der sich für s Pilgern interessiert und mich nach Wanderführer und Unterkünften fragt. Und wie man sowas plant. Er wollte ja schon immer selber los – aber er traut sich nicht allein. Ich gebe ihm alle Infos, die ich für wichtig halte und hoffe, dass er den inneren Schub findet sich in Bewegung zu setzen und seine Erfahrungen zu machen.
Der Bauer und der Kirchturm von Köngetried
Der nächste Ort in den ich meinen Fuß setze heißt Köngetried. Da geht es kurz nach dem Ortsschild ordentlich den Berg rauf. Während ich mich also schneckengleich die Straße hinaufwinde, sieht mich ein Bauer und kommt von seinem Grundstück zu mir auf die Straße gelaufen. Obwohl, gehen hätte auch gereicht, um mich nicht zu verpassen, so schnell bin ich nicht an seinem Grundstück vorbei.
Er freut sich mich zu sehen und ist sehr redseelig, allerdings in einem ordentlichen Köngetrieder Dialekt, der schon sehr eigenwillig klingt. Er verpasst mir eine saubere Geschichtslektion über den Ort, der ich leider nicht ins letzte Detail folgen kann. Auf jeden Fall verstehe ich, dass der Kirchturm der schiefe Turm vom Unterallgäu genannt wird, weil er eine Neigung von 2,5 Grad aufweist, was bedeutet, dass er ungefähr einen Meter nach Norden und einen halben Meter nach Osten übersteht. Früher sei dies eine Wehranlage gewesen und er erklärt mir auch wie es zu der Neigung kam, aber ich habe es schlichtweg nicht verstanden.
Er kennt sich auch aus mit dem Jakobsweg und weist mir, ohne dass ich gefragt hätte, den weiteren Weg über alle Dörfchen, Weiler, Gehöfte und Kuhställe die noch bis Markt Rettendorf vor mir liegen. Der Bauer lebt allein auf seinem Hof und aus seinem Verhalten ist für mich klar zu erkennen, dass er einsam ist und eine Familie bräuchte. Er ist vielleicht Anfang 40. Verkneife es mir dann aber doch ihm vorzuschlagen bei "Bauer sucht Frau" mitzumachen.
Ich frage ihn nach der nächsten Bank im Ort. "Bank?" "Also zum drauf sitzen". Er überlegt kurz. "An der Bushaltestelle. Da ist auch die beste Sicht auf den Kirchturm für ein Foto zu machen". Ich bedanke mich und schiebe wieder den Berg hoch.
Tatsächlich finde ich vorher noch eine andere Bank.
Und zwar vor einem Haus, das eine Jakobsmuschel an der Wand und eine Telefonnummer an der Scheibe hat.
Leider sieht das Haus heute verlassen aus und da ich keine Unterkunft hier brauche, rufe ich auch nicht an. Aber ich mache eine Entlastungspause für die Beine.
Dann geht s weiter nach Mussenhausen , wo ich auf einem älteren Herrn im Garten treffe, mit dem ich plausche. Mensch, was ist denn heute für ein Betrieb? Der erste Tag ohne Sonne und die Menschen gucken plötzlich aus allen Löchern.
Boxenstopp in Mussenhausen
Direkt an der Hauptstraße steht in Mussenhausen die Wallfahrtskirche St. Maria vom Berge Karmel. Kirchturm sieht gerade aus. Wäre ja schön, wenn ich drinnen einen Stempel entdecken würde, obwohl ich davon nirgends etwas gelesen hatte. Ich drücke gerade das schwere Kirchenportal auf, als mir dort eine Frau entgegenkommt. Sie sieht aus, als würde sie ortsansässig sein und sich auskennen.
Ich spreche sie an, ob es einen Pilgerstempel in der Kirche gäbe, aber sie antwortet, dass sie sich nicht auskenne und nur Besucherin sei. Direkt hinter ihr drängelt ein älterer Mann in Arbeitskleidung mit Leiter unterm Arm an ihr vorbei.
Hilfsbereit fragt sie an meiner statt den Handwerker nach dem Stempel, der uns daraufhin auf bayerisch angrantelt, wir sollen im Altenheim gegenüber fragen und grußlos an uns vorbeimarschiert.
Sicherheitshalber schaue ich drinnen trotzdem nochmal nach, aber finde natürlich nichts.
Ich schaue zweifelnd auf den großen langezogenen Bau des Seniorenheimes, das wohl von Nonnen geführt wird, denn zwei gehen gerade von mir abgewandt durch den Garten. Einen Eingang kann ich nicht erkennen. Zum rufen ist die Distanz zu weit, Ich bin hin und hergerissen um das Gebäude herumzugehen und mich durchzufragen, aber dann siegt meine Müdigkeit.
Wenn er Recht hätte, warum kann man nicht einen simplen Hinweis in der Kirche anbringen? Und falls nicht, würde der zusätzliche Aufwand am Ende nicht belohnt. Das mag zwar banal klingen, aber selbst diese Kraft will ich mir lieber sparen für die Kilometer, die noch vor mir liegen.
Die hilfsbereite Frau verwickelt mich vor der Kirche in ein längeres Gespräch. Sie und ihr Mann Waldemar sind coronabedingt zu Tagespilgern geworden. Sie wohnen in Reutlingen und machen jedes Wochenende einen Tagesausflug zu einem anderen Abschnitt des Bayerisch Schwäbischen Jakobsweges. So arbeiten sie sich nach und nach vor. Manchmal gehen sie auch nur Teilstücke, weil sie ja immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückmüssen. Dazu kommt dann noch die Fahrzeit. Von Reutlingen bis hierher ins Unterallgäu sind es bestimmt zwei Stunden.
Sie ist sehr interessiert, wie ich meine Etappen gehe und plane und wo ich nächtige. Auch diese Beiden kennen den gelben Outdoorführer nicht, den ich heute schon zum zweiten Mal zum abfotografieren zeige. Außerdem fragt sie mich, ob ich denn keine Angst hätte – so ganz allein unterwegs als Frau. Sie vermittelt mir den Eindruck, dass sie es eigentlich auch gerne ausprobieren würde, sich aber ebenfalls nicht traut, wie der Mann aus Dirlewang.
Ich stelle fest, dass ich bisher die größte Angst vor dem Gewitter hatte, vor dem ich gestern gelaufen bin. Im Wald und generell unterwegs habe ich allein keine Angst. Aber ich kann schon nachvollziehen, dass pilgern für eine einzelne Frau, die Angst hat, dass sie überfallen werden könnte eine große Herausforderung darstellt. Denn wenn die Angst mitgeht, verschiebt sie den Fokus komplett. Und Essig ist es - mit Gelassenheit, Entspannung und Balance finden.
Natürlich habe ich auch jeden Morgen Sandra-Sorgen. Die sind allerdings anderer Natur und zielen mehr auf meine körperliche Konstitution, die Wetterlage und die Wegbeschaffenheit ab. Falls ich mich doch mal verletzen sollte, habe ich mein Handy dabei samt geladener Powerbank. Und das Unterallgäu ist nicht Alaska.
Das schöne Unterallgäu
Weiter geht's für mich. Seit meinem Start in Oettingen ist die Tagesetappe heute die Schönste für mich. Allgäu pur mit sanften Hügeln, schönen Ausblicken, viel Milchwirtschaft, Kuhglocken, ländlicher Idylle, kleinen Ortschaften mit zwiebeligen Kirchtürmen. Teilweise komme ich mir vor wie in der Werbung von Almigurt. Es gefällt mir sehr. Ich bin total entspannt. Der Himmel reißt auf und der Wind spielt mit den Wolken Pustespiele.
Unterwegs finde ich heute auch immer wieder Hinweise an Häusern, die für Jakobspilger bestimmt sind und diese tolle Idee:
Etappenziel Markt Rettenbach
Ich bin sehr froh, als ich in Markt Rettenbach ankomme. Direkt neben dem Marktplatz steht die Kirche St. Jakobus, wo ich meinen heutigen Tagesstempel in den Pass drücke. Hier gibt es auch einen angehefteten Hinweis auf die Übernachtungsmöglichkeit im Haus Präsenz. Meine heutige Pilgerunterkunft, die ich mir ja bereits vorab gebucht habe.
Ein starker Schauer setzt ein, genau als ich die Kirche wieder verlassen will. Das ist mir zu heftig, da warte ich dann doch lieber und hocke mich in den Eingang, bis der Regen wieder nachlässt. Gegen 17.00 Uhr erreiche ich das Haus Präsenz am Rande von Markt Rettenbach und werde von einer sehr netten Hausherrin empfangen, die ihre zwei alten Kinderzimmer im ersten Geschoss, denen die Kinder mittlerweile entwachsen sind, nun an Pilger vermietet. Es gibt alles, was das Pilgerherz begehrt, einen Kühlschrank mit Getränken, Geschirr, Teekocher, lustig bedrucktes Toilettenpapier, nur leider kein Frühstück. Mein Zimmer hat einen tollen Balkon, mit einem wunderbaren Blick. Ich packe zunächst meinen Füße aus – auweiha, die Blase hat sich mächtig vergrößert und sieht nicht mehr so gesund aus, hält aber immer noch dicht. Ich danke dem Entwickler des Blasenpflasters.
Für Abendessen und Frühstück gehe ich nochmal sandalenbesohlt in den Ort zum Supermarkt und decke mich ein.
Macht summasummarum 25 gelaufene Tageskilometer.
Den Rest des Abends chille ich auf dem Balkon, belüfte meine Füße, trinke Tee, futtere mich voll, schreibe in das vorhandene Pilgerbuch und genieße den herrlichen Ausblick.
Letzter Satz heute im Tagebuch:
Mein Lieblingstag. Rundum zufrieden!
Infos zu Etappe 11
Meine pilgergfreundliche Übernachtung:
Hannelore Präsenz
Kneippstr. 4
87733 Markt Rettenbach
Die gpx tracks für den Bayerisch/Schwäbischen findet ihr hier:
https://www.pilgern-schwaben.de/augsburg-bad-woerishofen-bad-groenenbach/