Pilgern unter einem Hut - Unterwegs mit Sandra
Bayerisch Schwäbischer Jakobsweg
Etappe 12: Von Markt Rettenbach nach Bad Grönenbach - 24,7 km
Blick aus der Balkontür. Der herrliche Ausblick von gestern ist Geschichte. Es ist trübe, wolkenverhangen und regnet. Die Straße ist nass. Heute kommt wohl endlich mal wieder mein roter Regenponcho zum Einsatz. Ich stärke mich mit dem eingekauften Frühstück, packe meine Sachen und verabschiede mich von Frau Präsenz. Sie ist so freundlich und hilft mir beim Anziehen des Ponchos.
Außerdem empfiehlt sie mir eine Abkürzung direkt hinter dem Haus hoch zum Waldrand zu nehmen ,wo ich wieder auf den Jakobsweg treffe, die mir einen guten Kilometer Strecke durch die Stadt einspart. Da sag ich nicht nein, besonders nicht bei dem Wetter.
Draußen ist es von Schritt eins an ungemütlich. Es regnet zwar relativ schwach, aber konstant. Ich quere die Bundesstraße direkt hinter dem Haus und marschiere auf einem Weg sanft ansteigend Richtung Waldrand.
Donnerstag, 02.07.2021
Here comes the rain again ....Falling on my head like a memory...
Tipp des Tages:
Ist es heiss - kneipp mit Eis,
ist es kalt - wird's Winter bald,
ist es nass - macht's keinen Spass!
Dann komme ich schon an der Rettenbacher Kneippanlage mit integriertem Eisautomat vorbei. Ausgerechnet jetzt brauche ich keine Kneippanlage.
Heute werde ich wohl in meinen Schuhen kneippen können. Eis essen im Regen mag ich auch nicht. Und schon dreimal nicht Morgens um halb neun. Dann wohl kein Eis für mich. Schade, vorgestern hätte ich dazu nicht nein gesagt. Solche Chancen kriegt man nicht oft, aber immer zur falschen Zeit am falschen Ort!
Ich denke mit Sorge daran, dass ich heute wohl keine Pausen auf Bänken machen kann, weil die ja alle total nass sein werden und ich auch. Und zu dem Regen gesellt sich jetzt noch ein ordentlicher Wind. Das wird ja ein Spaß werden...
Angriff aus dem Hinterhalt
In diesem Moment bemerke ich, dass von rechts aus einer Entfernung von 50 Metern mehrere wütende Jungstiere auf mich zugestürmt kommen. Sie brüllen vor Zorn und ich erstarre einen Moment, um dann zu realisieren, was los ist. Klar, mein flatterndes rotes Cape regt sie auf. Uns trennt nur ein mickriger niedriger Zaun mit zwei Drahtspulen und ich hoffe schwer, dass da genug Strom drauf ist, um sie aufzuhalten. Ich will es eigentlich aber nicht drauf ankommen lassen, denn die sehen gerade so aus, als würden sie jeden Hochsicherheitstrakt niederwalzen.
Ich nehme die Beine in die Hand und laufe mit meinem im Gegenwind fahnengleich wehenden roten Cape los, entlang der Weide. Das macht sie nur noch rasender, ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie die Richtung wechseln und mit donnernden Hufen immer näher kommen. Sie brüllen mich weiter an. Das Szenario ist wahrscheinlich ein Bild für die Götter, aber mir schlägt das Herz bis zum Hals vor Angst und Anstrengung. Endlich erreiche ich das Ende des Zaunes, lasse die Rindviecher hinter mir und bringe Extrameter zwischen uns. Selbst als ich 200 Meter weit weg stehenbleibe, höre ich sie immer noch wüten. Ich habe zittrige Knie. Verdammt nochmal! Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet gewesen.
Ich habe die Tiere einfach nicht wahrgenommen, als ich an der Wiese vorbeiging. Weder hatte ich sie gesehen, noch darüber nachgedacht, dass ich eine Attraktion sein könnte. Na herrlich. Wenn ich heute an so viel männlichen Kuhvolk vorbei komme wie gestern, renne ich den ganzen Tag vor Bullen davon. Der Tag ist jetzt schon gelaufen für mich.
Was wäre die Alternative? Cape ausziehen? Wie soll das gehen? Kuhweide voraus - Cape aus? Gefahr vorbei - Cape an? Dann werde ich in kürzester Zeit pitschnass und krieg das ebenfalls nasse Ding sowieso nicht mehr angezogen. Und bei Wind schon mal gar nicht. Völliger Schwachsinn. Also entweder mutig mit Cape oder durchweicht ohne.
Eine Sache ist auf jeden Fall glasklar für mich. Das ist das letzte Mal, dass ich dieses rote Cape dabeihabe. Ich werde mir definitiv ein blaues oder olivgrünes bestellen.
Ich brauche ein paar Minuten, bis ich mich psychisch und physisch einigermaßen erholt habe. Dann treffe ich das nächste Tier auf meinem Weg. Dieses ist jedoch zum Glück nicht angriffslustig.
Weg ist der Weg oder der Weg ist weg
Wie geplant komme ich am Waldrand auf den Jakobsweg zurück und folge ihm. Es geht sich eine ganze Weile gut, wenn auch leicht bergauf.
Anscheinend bin ich gedanklich noch im Stierinferno, denn als nächstes finde ich mich plötzlich mitten in einer nicht gemähten Wiese wieder. Dabei war ich eigentlich sicher, dass der Pfeil in diese Richtung gezeigt hatte. Das Gras geht mir bis zum Knie und ist klatschnass. Außerdem geht es bergauf. Von der Seite bläht mir der Wind den Poncho auf, so dass der Regen, der nun in Strömen runterkommt, mir direkt auf meine nicht wasserdichte Jacke darunter klatscht. Meine Hose ist schon bis zu den Oberschenkeln durchnässt und es fühlt sich wie jedes Mal großartig an. Ich sehe kaum 20 Meter weit vor lauter Regen. Was ich aber direkt vor mir vermisse ist der Weg. Ich dreh mich suchend um. Der Weg ist weg! Ich habe keine Ahnung, ob ich hier richtig bin. Und eigentlich keine Wahl als weiterzugehen. Mein Handy kann ich gerade auch nicht rausnehmen bei dem Wetter, um mich zu orientieren.
Kurz vorm Aufgeben
Ich könnte heulen vor Frust. Mutterseelenalein mitten im Hang irgendwo im Nirgendwo in einem hundsmiserablen Wetter.
Was zur Hölle hab ich mir dabei gedacht? Ich beiße die Zähne zusammen und stapfe weiter bergauf. Alle paar Meter kriege ich eine nasse Windböe ab. Ich bin jetzt schätzungsweise eine Stunde unterwegs und merke, dass meine Schuhe schon durchgeweicht sind. Zwar wate ich noch nicht im Wasser, aber die Socken sind nass und es ist unangenehm.
Nachdem ich mich durch die erste Wiese gekämpft habe, komme ich an eine weitere, aber diesmal gemähte Wiese, der ich bis zu einer Straße folgen kann. Und hier steht glücklicherweise wieder einen Wegweiser für mich. Wenigstens bin ich wieder auf dem Jakobsweg.
Ich weiß, dass es bis Ottobeuren etwas weniger als die Hälfte der Tagesstrecke ist. Von dort könnte ich einen Bus nach Bad Grönenbach nehmen. Also bis dahin würde ich durchhalten müssen.
Der Gedanke missfällt mir enorm, aber unter den Bedingungen den ganzen Tag überstehen? Nee, das würde ich nicht schaffen. Ohne Pausemöglichkeiten im Trockenen und nass vom Scheitel bis zu Sohle? Ponchos bei Wind sind Mist. Rote Ponchos im Allgäu sowieso. Und Schuhkneippen wird keine neue Trendsportart.
Durch den Wald gehen macht heute auch gar keinen Spaß. Natürlich ist der Boden matschig. An vielen Stellen sogar morastig, an anderen steht das Wasser knöcheltief in den Fahrspuren der Traktoren und man hat kaum Möglichkeit drumherum zu balancieren. Falls es nicht nass ist, ist es dafür rutschig auf den Steinen oder Wurzeln. Ohne meine Stöcke wäre ich heute aufgeschmissen.
Ein kleiner Lichtblick
Kurz vor Mittag kommt dann auch Ottobeuren mit seiner das Ortsbild dominierenden Klosterkirche in Sicht. Mittlerweile hat der Regen tatsächlich nachgelassen und sogar eine Pause eingelegt. Während ich auf den Ort zulaufe trocknet meine Hose schon wieder und meine Laune bessert sich. Als ich eine halbe Stunde später das Stadtzentrum erreiche, ist sie tatsächlich fast trocken und ich werde wieder optimistischer. Bis zum Kloster sind es noch ein paar Meter weiter und ein paar Stufen höher.
Hm. Blick zum Himmel. Grau, aber nicht mehr so schlimm. Hälfte hab ich. Andere Hälfte schaff ich auch noch.
Frei nach dem Motto: Schlimmer geht immer, aber heute nimmer.
Also kein Bus. Im selben Moment hoffe ich schon, dass ich diese Entscheidung nicht wieder bereuen werde.
Aber erstmal freue ich mich darauf in der schönen Barockkirche einen Stempel abzuholen und anschließend eine Pause zu machen. Rundherum gibt es genügend Sitzmöglichkeiten. Ich steige also die Stufen hinauf und gehe hinein, komme aber unverrichteter Dinge wieder heraus. Habe auch keinen Hinweis innen gefunden. Vielleicht sollte ich dem Schild zum Klosterladen auf der Kirchenrückseite folgen? Aber das sind natürlich ein paar Extrahundertmeter hin und zurück.
Nein, dann soll es wohl einfach nicht sein heute.
Ich setze mich auf eine Bank mit Blick auf St. Alexander und Theodor und mache meine Mittagspause. Eine halbe Stunde später, praktischerweise mit Einsetzen des Tröpfelns von oben, breche ich wieder auf und finde nun auch die Infotafel des Jakobsweges für Ottobeuren.
Da steht tatsächlich drauf, dass man den Pilgerstempel in der Touristinfo erhält.
Aber die lag doch schon hinter mir? Wenn auch nur ca. 150 Meter. Wie unpraktisch die Tafel an dieser Stelle aufzubauen und darauf hinzuweisen, wo der Jakobspilger ja schon dran vorbei gelaufen ist. Mag ja für andere kein Problem sein, aber ich gehe nicht gerne zurück. Heute schon gar nicht.
Die Herausforderungen hören nicht auf
Hinter Ottobeuren geht es wieder in den Wald. Und – es fängt wieder feste an zu regnen. Aber wenigstens ist es nicht mehr so windig wie heute Morgen im Hang. Und Kühe gibt es ja im Wald auch keine. Immer positiv denken.
Beim Weiler Niebers tauche ich aus dem Wald auf, um kurz danach wieder darin zu verschwinden.
Ungefähr bei Kilometer 15 kommt das nächste Highlight es Tages.
Ein Off-Grid-Abschnitt führt mich vielleicht zweihundert Meter auf einem schmalen Pfad steil den Berg hinab, gesichert talseitig durch ein marodes Holzgeländer. Der Boden ist natürlich nass, dazu uneben, zerfurcht , mit rutschigen Steinen durchsetzt und fordert meine ganze Konzentration. Im trockenen Zustand wäre der Weg okay gewesen, aber bei diesen Bedingungen muss ich mich mit meinen Stöcken vorsichtig abwärts tasten. Es wäre unschön sich jetzt hier zu verletzen. Der Übergang in einen anderthalb Meter hohen Brennessel- und Brombeerwald , der in den Pfad hereinwuchert ist fast fließend. Ob ein Straucheln hier weniger weh täte, weiß ich allerdings nicht. Mich würde echt mal interessieren, wann der letzte Mensch vor mir hier langgegangen ist. Habe Pionierfeeling, während ich die Brennesseln zur Seite schlage. Muss ja nicht extra erwähnen, dass ich bisher unterwegs keine Menschenseele getroffen habe. Heute würde ich allerdings nicht mal einen Hund vor die Tür jagen. Ich meistere auch dieses Stück und bin heilfroh, als ich irgendwann im Flachen auf einem Fahrweg ankomme.
Auf diesem Weg geht es weiter durch den Wald für die nächsten drei Kilometer. Es bleibt bis auf kurze Pausen unangenehm nass und dazu kommen Unwägsamkeiten, die der Sturm vorletzte Nacht wahrscheinlich hier hinterlassen hat. Zweimal muss ich über zwei nasse, alte, entwurzelte Fichtenstämme klettern, die quer über den Weg gestürzt sind. Aber zu diesem Zeitpunkt nehme ich das nur noch hin.
Ich bin erleichtert, als ich endlich in der Nähe von Niederdorf aus dem Wald komme. Der Regen macht zum Glück gerade eine Pause und so gönne ich mir auch meine zweite Tagesrast auf einer Bank am Waldrand. Ich setze mich halb auf meinen Regenponcho, damit sich mein fast getrockneter Popo nicht wieder vollsaugt. Ich denke, das Schlimmste liegt nun hinter mir, aber immer noch liegen ca. 6 km vor mir.
Endspurt
Die letzten Kilometer ziehen sich erfahrungsgemäß wie Kaugummi. Erst läuft man auf die Bahnlinie und die Autobahn zu und wenn man das geschafft hat, parallel zur Hauptstraße auf einem Radweg stur gerade aus bis nach Bad Grönenbach.
Vorbei geht s auch am Outletcenter der Firma Mammut. Schade, da hätte ich gerne mal reingeguckt unter anderen Vorzeichen.
Heute geht das einfach nicht bei mir, ich will nur ankommen in Bad Grönenbach. Tatsächlich tue ich das dann auch. Nach 25 Kilometern und ein paar Gequetschten komme ich in der Pension "Zur Tanne" an.
Was für ein Tag!
Angekommen!
Hier werde ich von Frau Thiel sehr herzlich in Empfang genommen. Ich bekomme ein schönes Zimmer mit Bad und bitte als erstes um Zeitungspapier für meine Wanderschuhe. Die muss ich bis Morgen trocken bekommen. Zum Glück gibt es einen Fön für Socken und Co.
Ich ruhe mich kurz aus, dann ziehe ich wie üblich meine Sandalen an und laufe in die Stadt. Ich muss grinsen, nach 25 Kilometern hopple ich tatsächlich nochmal freiwillig los. Merkwürdigerweise hab ich heute Abend gar keinen Hunger. Eigentlich hatte ich geplant aus Essen zugehen, aber ich bin nicht warm genug angezogen, ich fröstele und es hat schon wieder angefangen zu regnen. Mein zweites Paar Socken wird gerade in meinen Sandalen nass. Und nicht nur die Socken. Nein, dann verzichte ich aufs Essengehen und quäle mich nur kurz die vielen Stufen zur Kirche hoch.
Ich habe Glück und kann sofort einen Stempel entdecken. Was mich allerdings wundert ist, dass es gar kein Schild gibt, was darauf hinweist, dass West- und Ostweg hier wieder zusammengeführt werden. Vielleicht habe ich es aber einfach auch nicht gesehen in meiner Verfassung.
Rathaus Bad Grönenbach
Das Stadtzentrum und besonders das Rathaus ist wirklich hübsch mit Blumen gestaltet, aber bei der Wetterlage leider nicht ausgiebig zu bewundern.
Ich humpele zurück in meine Pension. Für heute habe ich definitiv genug.
Nach einer Dusche und ein wenig EM-Fußball im Fernsehen lege ich mich bald hin. Ich kann es mir nicht so richtig erklären warum, aber ich schlafe schlecht in dieser Nacht.
Obwohl ich nicht von Bullen träume.
Beobachtungen beim Frühstück
Das Frühstück bei Frau Thiel entschädigt für alle Strapazen des Vortages. Es ist einfach fantastisch wie fürsorglich, freundlich und gut gelaunt die Hausherrin sich um alle ihre Gäste kümmert. Ich bin restlos begeistert von dieser guten Seele und ihrer Herzenswärme. Sie findet die richtigen Worte. Wir unterhalten uns sehr angenehm. Ich bekomme sogar noch eine Buchempfehlung.
Auch die vier Damen am Nebentisch sind sehr bemerkenswert und ich komme nicht umhin ihrem Gespräch mit der Hausherrin zuzuhören.
Ich glaube, jede von ihnen hat ihr Päckchen zu tragen, aber einmal im Jahr treffen sie sich in Bad Wörishofen, wo sie sich vor Jahren kennenlernten zu einer Art Revivalfeier zusammen mit einer größeren Gruppe, die anderswo untergebracht ist . Klar, in diesem Jahr sieht die Zusammenkunft coraonabedingt natürlich anders aus als sonst.
Schon beim Frühstück schwelgen sie in schönen gemeinsamen Erinnerungen, Lachen zusammen, erzählen aus ihren Leben, genießen die gemeinsame Zeit. Was bei den Vieren klar erkennbar ist und doch so selten zu beobachten - sie wertschätzen sich sehr. Und sie geben gut aufeinander acht.
Frau Thiel hat sogar ein richtig offizielles Pilgerbuch von der Bayerisch Schwäbischen Pilgergemeinschaft zugeschickt bekommen. Ich wusste gar nicht, dass es auch solche Bücher
gibt und freue mich, dass ich jetzt hineinschreiben darf.
Ich fühle mich sehr wohl in diesem Haus. Einerseits tut es mir leid zu erfahren, dass die Gastgeberin ihre Rente noch drei Jahre aufschieben muss wegen der Einbußen im letzten Jahr. Andererseits hat es für mich etwas Beruhigendes, dass die Tanne noch ein paar Jahre ihre Pforte für Gäste und Pilger geöffnet hat.
Als ich das Haus verlasse, lege ich einen
Pilgerstein im Eingangsbereich ab. Ich
denke hier ist erstmal gut aufgehoben,
bis er aufgehoben wird.
Infos zu Etappe 12
Meine pilgergfreundliche Übernachtung:
Pension Zur Tanne
Mozartstr. 2
87730 Bad Grönenbach
Die gpx tracks für den Bayerisch/Schwäbischen findet ihr hier:
https://www.pilgern-schwaben.de/augsburg-bad-woerishofen-bad-groenenbach/