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Pilgern unter einem Hut - Unterwegs mit Sandra

 

Bayerisch Schwäbischer Jakobsweg 

Etappe 6 :  Von Biberbach nach Augsburg 22,1 km

Wettervorhersage: 18 Grad, bedeckt mit längeren Regenabschnitten

Samstag 11. Juli 2020  

Tagebucheintrag:

Augsburg ich komme…

Ob bei Regen oder Schnee - auf jeden Fall ich geh!

Um sieben Uhr tönt wie immer mein infernaler Weckalarm. Gefühlt kurz nach dem Einschlafen. Ein letztes Mal zusammenpacken für meine erste kleine persönliche Pilgererfahrung, den Rucksack schultern und losgehen. Die längste Etappe mit 22,8 km wartet auf mich. Zumindest ist es jetzt noch trocken, wenn auch der Himmel wolkenverhangen und grau ist. Mal sehen, ob der Hut auch gegen Regen taugt.

Gegen 8.30 Uhr verlasse ich die Unterkunft. Ich hänge meinen Gedanken an die vergangene Nacht noch nach. Laut ist es dort zugegangen unter meinem Zimmer in der Gaststube. Wahrscheinlich der einzige Ort an einem Freitagabend in Biberbach, wo man gesellig zusammenkommt. Die Einheimischen  hatten jedenfalls Spaß gehabt, gegrölt und gelärmt. Die Mehrheit hatte sicherlich zu tief ins Weizenglas geschaut, während der Wirt die Stimmung mit unsäglicher Musik noch angeheizt hatte. Erholsames Schlafen war für mich jedenfalls Fehlanzeige, bis sich der Lärmpegel irgendwann nach Mitternacht beruhigte.

Vielleicht hätte ich einfach runtergehen, ebenfalls die AHA-Regeln missachten und mitfeiern sollen. Mal abgesehen davon. Irgendwie definiere ich das Wörtchen „pilgerfreundlich“ in Zusammenhang mit Ruhe und Schlaf ein wenig anders.  Aber was soll’s, ich bin nicht in der Stimmung auf die vergangene Nacht einzugehen, als der Wirt mir die Frühstückssemmeln bringt. Er hat noch  ganz kleine Augen. Sicher noch kleiner als meine. Ich entscheide mich spontan weder über Miniaugen noch andere verfängliche Themen ein Wort zu verlieren. 

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Wer war St. Laurentius?

Am Ortsausgang passiere ich die Kirche mit dem nicht sehr einprägsamen Namen "St. Jakobus, St. Laurentius und Hl. Kreuz", von der ich glücklicherweise bereits am Vortag ein Schönwetterfoto gemacht hatte.

Hier wird seit mehreren Jahrhunderten ein romanisches Kruzifix verehrt, was denn auch den dritten Teil der Namensgebung erklärt.

Der erste Teil, St. Jakobus, ist klar, aber wer war eigentlich St. Laurentius? 

Ich beschließe das später aufzuklären.

Kampf mit dem Poncho 

Als ich durch das benachbarte Achsheim laufe,  fängt es an zu regnen und ich nehme erstmalig meinen Regenponcho in Betrieb und verstehe sofort, weshalb es einfacher ist diesen zu zweit anzulegen. Es ist fast unmöglich als durchschnittlich motorisch begabter Mensch den Poncho allein über den angezogenen Rucksack zu ziehen. Einer Puppe mit falschherum eingehängten Armen würde das leichter fallen. Aber man muss ja immer die positiven Aspekte sehen -  ich trage heute unter dem Poncho erstmals langärmlig, da wird mein linker, richtig rum verankerter Arm, zumindest nicht noch mehr „bescheuert“. Bescheuert sieht dafür wahrscheinlich meine Kombo "grauer Anglerhut zerknautscht kombiniert mit  roter Regenponchokapuze geschnürt" aus. Mal ganz abgesehen davon, dass es extrem unbequem über meinem dicken Haupthaar drückt. Aber hatte ich nicht irgendwo schonmal das blöde Packmaß des Hutes angesprochen?
Jetzt habe ich den Salat: halbnasser Hut, der weder auf Kopf, noch in Rucksack unter Regenponcho passt.
Im Gegensatz zu den ersten Tagen, die mich durch viel Natur und Landwirtschaft geführt haben, merke ich jetzt ganz deutlich, dass es auf eine große Stadt zugeht. Der Weg verläuft ein langes Stück neben einer vielbefahrenen Straße her. Der Lärm nimmt zu.
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Rätsel um die Stahlarena

In der Nähe von Gablingen zeigt sich eine kleine Stahlarena zu meiner Linken bei dramatischem Himmel als optisches Highlight.  Ich denke darüber nach, was das wohl sein könnte, aber mir fällt absolut nichts Sinnvolles dazu ein.  Für die nächste Pause nehme ich mir vor das Stahlgerippe zu googeln. Die Form erinnert mich irgendwie an eine Fußballarena, aber mehr hat das Ding mit Sport nicht gemeinsam. Es entpuppt sich dann als etwas für mich völlig Abstruses, nämlich als eine Abhöranlage des BND.​ Aber man soll ja nicht immer alles so ungefiltert glauben, was man  im Internet so findet. Manchmal bekommt man einfach einen großen Bären aufgebunden. Bei genauer Betrachtung spricht doch auch einiges dafür, dass in dieser Anlage unsichtbare Waldfeen, Elfen und Gnome gefangen gehalten werden, die diskret versucht hatten zur Jahrtausendwende die Augsburger Puppenkiste in die Luft zu jagen, weil die Puppenspieler die Neuauflage von „Ein Sommernachtstraum 2.0 – Puck‘s Kampf gegen die Waldbiester“ nicht aufführen wollten. Ansonsten gibt es unterwegs nicht viel Außergewöhnliches zu entdecken, also dürfen die Gedanken auch mal ein wenig abschweifen....

 

Endspurt

Apropos abschweifen, ich fresse heute Kilometer, wie ein Pferd ohne Schweif, das in den heimischen Stall zieht, und komme ordentlich voran. Weder ist das Wetter einladend für Pausen, noch die Rastgelegenheiten. Genau genommen fehlen diese komplett. Eigentlich sollte man Städteplaner, Landschaftsingenieure und Gemeinderäte auch mal auf ein paar Fernwanderwege schicken, damit sie ein Gefühl dafür bekommen in welchem Abstand sie für die ein oder andere nur mittelfitte Pilgerfigur vielleicht mal eine Bank aufstellen könnten.

Bald fädeln sich die Gewerbetriebe von Gersthofen vor mir an der Straße auf und ich suche mir immer wieder Gebäude als Fixpunkte aus, die meine verbliebene Strecke in kleinere Einheiten aufteilen.

Den Poncho habe ich irgendwann wieder eingepackt. Bin zwar ein wenig nass geworden, aber die erwartete Sturzflut war ausgeblieben.

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Die letzten fünf Kilometer läuft man dann ziemlich idyllisch entlang des Lechs im Grünen. Bäume säumen das Ufer.  Die Gegend hat Parkcharakter und wird  auch gut angenommen von den anwohnenden Hundehaltern, Kinderwägenschiebern, Radfahrern und Minis auf Laufrädern. Kurz danach überquere ich bereits den Fluss auf einer breiten Brücke für Mensch und motorisiertes Metall.  

Schon bin ich im Augsburger Stadtzentrum, halte mich einmal rechts, komme am Jakobertor vorbei, und​ stehe endlich an der evangelischen Kirche St. Jakob.

Riesenfreude! Geschafft!  Mein Mann schließt mich am verabredeten Treffpunkt neben dem Jakobsbrunnen in die Arme  und hat mir Tee und Brote mitgebracht. Ich bin so geschafft und voller Eindrücke, dass ich leider kein einziges Foto von Augsburg mehr mache.

Was ich hingegen nicht vergesse:  den vorerst letzten Stempel für meinen Pass besorgen zu wollen. Angeblich gibt es hier ein Pilgerbüro. Aber zu Coronazeiten ist dies wohl nicht besetzt.

Vielleicht werde ich aber wieder in der Kirche fündig?  Die schwere Kirchenklinke lässt sich jedoch nicht hinunterdrücken. Die Kirche  bleibt, entgegen meinen Informationen,  heute für uns verschlossen. Wir gehen um das Gebäude herum. Kein anderer Eingang, kein Hinweis. Nichts. Etwas ratlos stehen wir beide herum. Ich lese nochmal nach in meinem Outdoorwanderführer. Es gäbe ein Pfarramt in der Nähe, aber das hat samstags zu. Schade, es wäre ein krönender Abschluss gewesen.  

Zusammen am Ziel

Wir gehen die paar Schritte zurück Richtung Jakobsbrunnen und da sitzen, wohl kurz nach mir angekommen - meine beiden für mich bisher unbekannt gebliebenen Mitpilger! 

Ich erkenne den Mann mit der Spiegelreflexkamera wieder, der mir tags zuvor bei meiner Rast erschienen war. Auch Ansgar und seine Tochter beenden in Augsburg ihre Pilgerschaft. Sie hatten in Nördlingen begonnen, sind ab Oettingen aber dieselbe Route gelaufen wie ich. Ursprünglich kommen die Beiden aus Münster und wollen in wenigen Stunden vom Augsburger Bahnhof einen Zug zurück zu ihrem Ausgangspunkt nehmen, wo ihr Auto geparkt ist. Von dort haben sie dann nach einer weiteren Übernachtung noch 500 Kilometer Heimfahrt vor sich. Wir fachsimpeln noch ein wenig über Streckenverlauf, Unterkünfte und den Fakt, dass wir uns unterwegs wohl immer nur knapp verpasst haben. Dann erwähne ich eher beiläufig, dass eben nur der Augsburger Stempel  für meinem persönlichen Abschluss der Woche fehlen würde. Ansgar kann mir tatsächlich den entscheidenden Tipp geben.  Der Ausrüstungsshop "Mc Tramp Outdoor &Trecking" auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist eine eher, sagen wir mal, unerwartete Pilgerstempelstelle.  Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, dort nachzufragen. Ich gehe direkt hin und tatsächlich wird der Pilgerservice sogar an der Tür angepriesen.​ Ich erhalte also dort meinen vorläufig letzten Stempel und bin augenblicklich komplett mit dem Tag versöhnt.​ Dann geht es nach Hause.

Sehr wahrscheinlich waren diese ersten 120 Kilometer Bayerisch-Schwäbischer Jakobsweg nicht annähernd so anstrengend, wie die 800 Kilometer, die mich auf dem Camino Francés erwarten. Und trotzdem hatten sie durchaus ihre (Pilgerfliegen)Tücken.

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Samstag 11. Juli 2020  abends zuhause

Tagebucheintrag:

Fazit für meine erste Pilgerwoche: Irgendjemand im Universum hat mir schon mal sanft zu verstehen gegeben, worauf man sich alles als Pilgergreenhorn einlassen können muss. Es war verdammt anstrengend, aber ich bin auch ein wenig Stolz angekommen zu sein. Und ich weiß jetzt: 

Nicht weit weg von der eigenen Haustür kann man tolle Erfahrungen machen, in sich hineinhorchen und sich selbst und anderen auf vielfältige Weise begegnen. Auch in Pandemiezeiten. Man kann es überall finden, das kleine Pilgerglück.​

Konfuzius hat es schon immer gewusst!

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