
Pilgern unter einem Hut - Unterwegs mit Sandra
Bayerisch Schwäbischer Jakobsweg
Etappe 2 : Wemding - Harburg 16,4 km
Durch den bayerischen Dschungel
Wetterlage: Perfekt
Tagebucheintrag
Dienstag, 07.07.20 Tag 2
Habe in der Labergasse geschlafen wie ein Stein. Kein Gelaber hat mich gestört. Heute habe ich gute 17 Kilometer vor mir. Der alte Konfuzius würde sagen: Der Weg ist das Ziel.
An der Unterkunft gibt es nix zu meckern. Netter Wirt, leckeres Essen, alles gut.
Fünf Sterne gäbe es auf einem imaginären Pilger-Übernachtungs-Bewertungs-Vergleichs-Portal von mir dafür. Wesentlich mehr als gestern. Findet so ein Pilgerportal wirklich schon statt im Netz? Wär ja vielleicht sonst mal eine Idee.


Hübscher Ortskern
Gestärkt nach einem reichlichen Frühstück verlasse ich den Gasthof „Zur Ente“ Richtung Stadtmitte.
In Wemding gibt es übrigens drei verschiedene Skulpturenrundgänge. Die Skulptur auf dem Bild vor dem Haus trägt den Namen: Sterntalermädchen. Zu den Wegen kann man in der Information eine Broschüre mit Erklärungen erwerben.
Ich wandele nun auf Skulpturenweg 1 und komme alsbald an dem pittoresken, historischen Stadtkern vorbei. Die goldene Marienstatue inmitten des Brunnens überstrahlt den Platz schon um 9 Uhr in der noch sehr angenehmen Morgensonne. Ansonsten ist es wieder beschaulich und menschenleer.
Noch nicht mal der Baggerführer, der zu dem kleinen orangenen Fahrzeug gehört, ist bisher zum Dienst angetreten. Er bleibt genau wie die ganzen Leute, die ich gestern schon unterwegs vermisst habe, verschwunden. Oder er macht schon Frühstückspause in der „Unsichtbar“.
Ein Platz ohne Rast
Kurz nach dem Ortsausgang schlängelt sich die schmale Straße einen Hügel hinauf. Nebenbei bemerkt habe ich den Eindruck ich bin kaum losgelaufen, als mich dieses Schild mit Blick auf einen sehr idyllisch gelegenen,
gepflegten Platz, zur Rast einlädt. Viele Leute wären froh, wenn sie so eine Ruheoase als Garten hätten.
Eigentlich würde mein Herz jetzt schon gerne verweilen und die Füße hätten sowieso nichts dagegen jederzeit zu rasten, aber der widerborstige Geist sträubt sich. Fordernd verlangt er: Tu erstmal was, bevor du diese Beine schon wieder hochlegst. Das haben sie sich noch nicht verdient. Seufzend verpasse ich also diese geruhsame Gelegenheit, während diverse Körperteile noch diesen inneren Tyrannen verprügeln wollen. „Was für ein Idiot!“, knurrt mein Rücken. „Völliger Unsinn“, sind sich beide Füße einig.
Ich glaub, ich brauche es eigentlich nicht extra erwähnen, aber natürlich komme ich, weder heute, noch in den nächsten Tagen, an keinem so schön für den Pilger hergerichteten Rastplatz mehr vorbei.

Dachte, in bayerischen Wäldern ist der Jakobusweg leicht begehbar und gepflegt wie der schöne Rastplatz, der vielleicht zwei Kilometer Luftlinie hinter mir liegt. Haste gedacht ..., haste gedacht ..., haste falsch gedacht …
Aber hier ist die Natur einfach unbehelligt und natürlich ins Sprießen gekommen. Der Dschungelpfad hat schon seinen Reiz, auch wenn er mich ziemlich verlangsamt. Zum Glück dauert es nicht allzu lang und die Passage liegt hinter mir. Danach mündet der Trampelpfad wieder in eine Art Forstweg, der sogar beschildert ist.

Viel Gestrüpp
Der Weg führt nun sanft ansteigend, vorbei an ein paar rückseitig gelegenen Gärten, in den angrenzenden Wald hinein. Und urplötzlich, hatte ein bisschen vor mich hingeträumt, sieht der Weg dann wild aus. Kurzer Check auf dem Handy. Jawoll, hier geht‘ s lang. Straight durch Zeckencountry.Ich benutze ein paar Hundert Meter meinen linken Wanderstock wie eine Machete und trenne sicher dabei ein paar Zeckenfamilien voneinander, indem ich sie in ein Paralleluniversum auf der gegenüberliegenden Seite des Weges regnen lasse.
Den rechten Wanderstock ziehe ich derweil achtlos an der Handschlaufe hinter mir her und bleibe so alle paar Meter mit der Tellerspitze in irgendeinem verwilderten Gestrüpp hängen.
Hatte mich ja mental auf viel eingestellt, aber so richtig Dschungeltrecking hatte ich nicht auf dem Schirm gehabt.
Schild im Wald - Natur holt's bald
Ich entdecke dieses romantisch eingebettete Schild, welches mir offenbart, dass nun Frankenweg und Jakobusweg, für einen Streckenabschnitt gemeinsame Sache machen und sich einen Weg teilen. Viel Botanik, wenig Pfahl. Zumindest das auf Augenhöhe angebrachte Schild ist noch sichtbar. Weiter geht‘ s über einige Anstiege und offeneres Gelände. Aber es bleibt bis auf weiteres einsam wie gestern.


Viel Platz zum Ausspannen
Unweit dieser Anhöhe, ca. 100 Meter zu meiner Rechten, entdecke ich wieder menschliches Leben. Ein einzelner Camper parkt in der ansonsten unberührten Landschaft. Die Familie hat dort ihr Lager aufgeschlagen und übt sich gerade im sonnenanbeten. Ich winke schnell, dann setze ich meinen Weg Richtung Harburg fort.
Die Strecke ist zwar etwas kürzer im Vergleich zu gestern, aber trotzdem wegen des anspruchsvolleren Höhenprofils nicht leichter. Auf den letzten Kilometern pfeife ich schon wieder aus dem letzten Loch. Schließlich nähere ich mich der Ortschaft Ronheim, die am Fuß der mittelalterlichen Festung Harburg liegt.
Ein Verbot bringt mich in Not
Schon länger sehe ich Harburg mit seiner Burg vor mir auf der Anhöhe thronend. Mein Tagesziel. So nah und doch so unerreichbar. Denn für mich ist der Aufstieg nach Harburg heute mit einem gewaltigen Haken verbunden:
Der Jakobsweg führt auf dieser Seite durch Ronheim hindurch, über eine Brücke und auf der anderen Seite des Flusses den Burghügel hinauf. Um zunächst überhaupt in den Ort zu kommen, muss man erst die Hauptverkehrsstraße überqueren und dann durch eine Unterführung unter den Bahngleisen hindurch gehen. Dies ist laut meinem gelben Büchlein und App der einzige Zugang. Nun ist es an und für sich nicht so schwierig so einen Tunnel zu benutzen.
Aber das Ungemach nähert sich in Form eines vor der Unterführung platzierten Straßenverkehrsschildes Nr. 250. Rundes Zeichen, rote Umrandung auf weißem Grund. Oh nein! Mir schwant nichts Gutes, denn hinter dem Verbotsschild offenbart sich mir eine Großbaustelle. Die ganze Straße aufgerissen, dahinter geschäftiges Treiben von Baustellenfahrzeugen, LKW und sogar behelmten Menschen mit Schaufeln.
Von einer Sekunde auf die andere gesellt sich zu meiner körperlichen Anstrengung ein innerer Konflikt mit richtigem Frust. Muss ich jetzt zig zusätzliche Kilometer am Rande der Bundesstraße um Harburg herumlatschen, um von der anderen Seite an mein Ziel zu kommen? Ich stütze mich auf meine Stöcke, entlaste meine Knie und spüre wie mir ein Schweißtropfen die Schläfe herunterläuft. Oder missachte ich das hässliche, runde Schild einfach?
Diesmal höre ich auf die aufbegehrenden Körperteile und beschließe das Schild erstmal zu ignorieren. Ich balanciere seitwärts mit Stockeinsatz an der Mauer entlang durch die aufgerissene Unterführung hindurch auf die andere Seite. In 50 Meter Entfernung sehe ich jemanden, den ich für einen Bauleiter halte, mit ein paar Arbeitern sprechen. Ich erreiche die Männer und grüße freundlich.
„Entschuldigen Sie bitte, gilt das Durchgangsverbot nach Harburg auch für Pilger, die zu Fuß nach Harburg wollen?“
Der Bauleiter mustert mich von Pilgerhut bis Schuh und zieht die Stirn in Falten. Ich bin mir sicher, er kann die Anstrengung und Ermüdung von meinem Gesicht ablesen. Vielleicht überlegt er kurz, ob er mir den Tag versauen, oder mir eher einen Helm leihen soll. Dann sagt er zu mir über den Baulärm der Bagger hinweg: „Laufen Sie schnell durch. 200 Meter geradeaus und dann direkt hinter dem Gebäude dort links abbiegen. Dann kommen Sie zur Brücke über die Wörnitz.“
"Danke. Danke! Tausend Dank. Ich gebe mein Bestes!" Mir fällt ein richtiger Brocken vom Herzen.
Man sagt ja, man solle jeden Tag eine kleine gute Tat begehen. Das ist dem Mann für heute gelungen. Ich hab‘ s ihm hoch angerechnet und bin dann so schnell ich noch konnte durch die Baustelle gepflügt.
Eine Rast ohne Platz
An der Brücke angekommen werfe ich erstmal den Rucksack von mir und setze mich auf eine olle Betontreppenstufe.
„Wo ist jetzt unser versprochener Rastplatz von heute früh?“, fragen die Füße.
Tja, Pech gehabt. Aber der vor mir liegende Blick auf die vor 1100 erbaute mittelalterliche Anlage der Harburg ist auch beeindruckend und entschädigt für entgangene Rastplatzfreuden.
Nach einiger Zeit rappele ich mich dann wieder hoch zum finalen Tagesanstieg. Um 15.30 Uhr komme ich an.


Heute bin ich im Gasthaus Straußen im Fürstenzimmer untergebracht. Erst die Gans, danach die Ente, jetzt der Strauß - entweder aßen diese Schwaben für ihr Leben gern diverses Geflügel, vergötterten das Vogelvieh aus zoologischen Gründen, oder aber die Namensgebung ihrer Gaststätten hatte eine andere geflügelte Bedeutung, die sich mir bisher noch nicht erschlossen hat. Aber wahrscheinlich werde ich noch mehrere Gelegenheit bekommen, mal genauer nachzufragen. Ich checke also ein, will mich eigentlich erstmal um die Pflege meiner Füße kümmern, als mir einfällt, dass ich ja nur bis 16.00 Uhr Zeit habe, um zur Touristinfo zu gehen, um einen Pilgerstempel abzuholen. Also, flugs Stiefel mit Stinkesocken in die Ecke getreten, barfuß in meine maximal bequemen Sandalen geschlüpft, Pilgerausweis gegriffen und schnell zur Gemeinde gehumpelt.
Glückstag!
Die Dame dort macht mir erst ein wenig Angst indem sie verkündet, dass die zuständige Mitarbeiterin nicht da sei und sie nicht wisse, wo die Kollegin ihren Stempel aufbewahre. Aber sie begibt sich glücklicherweise auf die Suche und wird fündig. Ich bedanke mich mehrfach. Soviel Glück habe ich heute! Meine Erkundigung nach anderen Pilgern ergibt, dass wohl sehr wenig von uns dieser Tage unterwegs sind, was wohl ebenfalls den Zustand des verwilderten Wegabschnittes erklärt.
Zur Belohnung für meine Strapazen setze ich mich direkt gegenüber meiner Unterkunft in ein geöffnetes Café und bestelle mir eine große Tasse Tee. Sowas von verdient.
Mit dem zweiten Tag bin ich sehr zufrieden und blinzele in die Sonne. Während ich da so entspannt sitze, denke ich schon an mein voraussichtlich ungeflügeltes Abendessen und freue mich auf einen fürstlichen Schlaf in meiner großzügigen, zugegeben ein wenig nach mittelalterlichem Muff riechenden, Fürstensuite. Aber auch immer was zu meckern….

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